Alles anders

Nachdem uns der Lockdown mitten im Umzug kalt erwischt hat, wollte ich mich immermal hinsetzen und einen Hilferuf Blogeintrag verfassen. „Hilfe, meine Kinder bringen mich um den Verstand“, „Hilfe, meine Eltern gehen mir auf die Nerven“, „Hilfe, die Leute im Supermarkt sind verrückt geworden“ usw. Also eigentlich das Durchdrehprogramm, was alle deutschen bzw. nicht-schwedischen Familien die vergangenen Wochen durchlaufen haben. Im Nachhinein betrachtet und in Anbetracht der Dinge, die noch kommen sollten, wahrliche Luxusprobleme…

Die ersten Wochen in der alten neuen Heimat waren also anstrengend. Vorallem, weil es dem kleenen Froillein an Abwechslung und Spielkameraden fehlte. Wir versuchten die Zeit sinnvoll zu nutzen. Noch bevor Amazon die Belieferung seiner Kunden auf „Notwendige Dinge“ umstellte, hatte ich mich mit Gesellschaftsspielen eingedeckt. Die retteten uns wenigstens über ein paar trübe Tage. Ansonsten versuchte ich die Große mit Inlinern und Fahrradfahren zu mobilisieren. Die Launen des Froilleins sorgten dennoch tagtäglich für angespannte Stimmung im Großfamilienbetrieb. Das brachte mich zu der bitteren Erkenntnis, dass meine Eltern offenbar ihren Enkeln nicht im normalen Alltag gewachsen sind. Das soll nicht heißen, dass sie sich keine Mühe geben würden. Aber irgendwie habe ich mir eingebildet, das Alter würde sie entspannter und gelassener machen.

Ende April fing ich wieder an zu arbeiten. Im Home-Office. Das bringt den Vorteil mit sich, jederzeit für die Familie verfügbar zu sein, hat aber den Nachteil, jederzeit für die Familie verfügbar zu sein. Was die Kinder betraf, war endlich wieder Land in Sicht: Beide bekamen ab Mai einen Notbetreuungsplatz und das kleene Froillein hatte sich mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft angefreundet. Blöd war, dass es mir quasi ab Beginn meiner Berufstätigkeit schlecht ging. Ich hatte Gliederschmerzen, und ganz extreme Kopf- und Nackenschmerzen. Abends bekam ich ständig eine verstopfte Nase und hatte das Gefühl, mein Gesicht würde glühen. Manchmal war es so extrem, dass ich meinen Kopf in eiskaltes Wasser getaucht habe. Das half auch gegen die Kopfschmerzen. Das Ganze besserte sich erst nach zwei Wochen. Bis dahin hatte ich vermutet, die Beschwerden wären hormonell bedingt. Einen Zyklus hatte ich eigentlich nicht mehr und ich rechnete schon fast damit, verfrüht in die Wechseljahre zu kommen. Außerdem bin ich als Morbus Crohn Patient anfällig für rheumatische Schmerzen, womit ich mir die Gliederschmerzen erklärte. Als die Beschwerden bei mir nachließen, wurde meine Mutter plötzlich von den mysteriösen Symptomen heimgesucht. Auch mein Mann klagte eine Woche über Kopfschmerzen, wobei das bei ihm nichts Ungewöhnliches ist. Meiner Mutter ging es hingegen jeden Tag schlechter. Sie konnte kaum noch essen, ihr Kreislauf machte schlapp und nach einer Woche wurde ihr „chronischer Winterhusten“ stärker. Die Hausärztin nahm ihr Blut ab, ignorierte aber ihren Husten und schickte sie, ohne sie abzuhören, nach Hause. Nach zwei Tagen sollte sie die Ergebnisse bekommen. Meine Mutter schaffte es kaum in die Praxis. Ständig wurde ihr schwarz vor Augen. Laut Blutbild war alles in Ordnung, nur das D-Dimer -ein Thrombosemarker- war erhöht. Sie wurde in die Klinik überwiesen. Beim Abschied weinte meine Mom und sagte meinem Vater, sie würde nie wieder rauskommen.

Die Ärzte waren überzeugt, mit meiner Mutter eine Covid-19-Patientin zu haben. Sie wurde isoliert und bekam ein CT. Im Ergebnis sah man milchglasartige Veränderungen. „Virale Herde“ nannten sie das. Es muss also Covid sein! Mein Vater bereitete zu Hause alles für unsere Quarantäne vor. Der erste Abstrich war jedoch negativ. Meiner Mutter ging es von Tag zu Tag schlechter. Am Wochenende entwickelte sie Atemnot und bekam eine Sauerstoffbrille. Dazu musste sie inhalieren. Sie bekam nun zwei Antibiotika. Eines, um sie abzuschirmen, das andere gegen atypische Pneumonieerreger, wie Mykoplasmen. Immernoch waren die Ärzte überzeugt, sie hätte eine Covid-Pneumonie. Doch auch die Testung des Sputums blieb negativ. Am Montag war meine Mutter am Ende ihrer Kräfte. Sie bekam kaum noch Luft. Wieder wurde ein CT gemacht und Wasser in der Lunge festgestellt (genauer im Pleuraraum). Mein Vater sagte Dinge, wie „ich muss sie sehen, wer weiß, wie oft noch“. Sehen konnten wir uns aber nicht. Ich rief meinen Bruder an, er solle sofort herkommen, ich habe Angst, unsere Mutter stirbt. Meiner Mutter wurde das Wasser punktiert und sie bekam eine Bronchoskopie. Ich riss meinem Vater das Telefon aus der Hand, als er mit dem Arzt sprach. Ich erzählte dem Arzt alles, was ich wusste: Von unseren Symptomen, aber auch von der Katze, die mit im Bett schläft, von Muttis chronischem Husten und meinem Verdacht, dass sie auf Schimmelpilze reagiert. Der Arzt fragte zig mal, ob wir Kontakt zu Covid-Fällen gehabt hätten. Ich meinte, ich hoffe, der Covid würde ihn nicht für andere Dinge blind machen. Am Abend telefonierte ich kurz mit meiner Mutter. Sie hatte kaum Kraft, zu sprechen. Sie sagte, sie würde es nicht schaffen.

Noch am Montag fand man Hinweise auf ein „immunologisches Geschehen“ in der Lunge und gab ihr Cortison. Am Dienstag wurde ein weiterer Liter aus der anderen Hälfte der Lunge punktiert. Am Abend ging es ihr deutlich besser. Sie bekam endlich Luft und ihr mentales Tief schien sich zu bessern. Am Mittwoch konnte sie endlich wieder essen und hatte sogar richtig Appetit. Seitdem geht es bergauf *toi toi toi* und wenn alles gut bleibt, darf sie am Mittwoch Heim.

Eine wirkliche Diagnose haben wir bis jetzt nicht. Vorläufig heißt es, sie hätte eine akute exogen-allergische Alveolitits. Ein Covid-19 wurde nicht gefunden. Ihre Lunge hat bereits Schäden davon getragen. Nur knapp ist sie an einer Transplantation vorbei geschrammt. Ein ungutes Gefühl bleibt. Was ist, wenn sie hier im Haus wieder dem Allergen ausgesetzt ist? Es ist auch klar, dass sie nach diesem Höllentripp keine Vollzeitoma mehr sein kann. Zumindest nicht die nächsten Wochen und vielleicht nie mehr. Die nächsten Wochen werde ich noch keine Übernachtungstouren fahren müssen. Aber früher oder später kommt das auf mich zu. Ohne meinen Mann und ohne die Unterstützung meiner Mutter undenkbar…

Ja, ich bin wahrscheinlich naiv. Oder mit Sicherheit, mich auf die Fitness meiner Eltern verlassen zu haben. Meine Eltern sind 64…seit Corona  gehören sie zur Risikogruppe. Vor Corona war das doch aber noch gar kein Alter…

Und es kommt noch ganz anders….

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert