Wo soll ich anfangen? Ich schreibe nur noch so selten, dass ich schon gar nicht mehr weiß, worüber ich die handvoll Leser informiert habe. Sicher habe ich erzählt, dass unser KleenesFroillein enorme Probleme in Mathe hat. Das machte sich schon beim Rechnen bis 10 bemerkbar, über zehn war es dann schon eine Katastrophe, ab 20 beinahe unmöglich. Also war ich vor über einem Jahr bei meiner Hausärztin und anschließend beim Kinderarzt, um mir eine Überweisung zum Kinderpsychiater/Neuropädiater geben zu lassen. Denn es sind ja nicht nur diese außergewöhnlichen Probleme in Mathematik, mit denen wir konfrontiert sind. Dazu kommt das ständige Verlegen, Verlieren von Sachen. Es noch nicht mal zu bemerken, die Impulsivität bei Streitereien mit ihrem kleinen Bruder oder die Wutausbrüche, wenn etwas nicht gelingt. Unsere ganze Geschichte vom Schreikind, über den Kopf-auf-den-Boden-schlagen, das Gesicht über anderthalb Jahre aufkratzen undsoweiter undsofort…..
Da ich bei allen Kinderärzten, die eine AD(H)S-Diagnostik durchführen, keinen Termin bekommen habe, wendete ich mich an die 116 117 und bat um Vermittlung. Lustig, dass man dann als Sachsen-Anhaltiner natürlich so behandelt wird, als läge dieses Bundesland auf einer Insel mitten im Meer der Unendlichkeit. Ins angrenzende Sachsen können sie einen natürlich nicht vermitteln. „Also wie wäre es mit ähm… Magdeburg???? Da wäre in diesem Monat noch was frei.“ Nein, absolut nicht machbar. Zum Glück landeten wir dann irgendwo in einer Arztpraxis innerhalb meiness Außendienstgebiets.
Im Januar war die Vorstellung. Jetzt im September eine Reihe von Tests. Danach die Auswertung. Laut deren Aussage hat das Froillein beim Intelligenztest leicht überdurchschnittlich abgeschlossen. Auch sprachlich liegt sie über dem Durchschnitt. Ihr logisches Denken ist leicht unterdurchschnittlich, aber nicht stark eingeschränkt. Umso auffälliger war ihr Ergebnis im mathematischen Bereich. Deutlich schlechter als Kinder ihrer Altersgruppe. Dazu wurde ihr noch eine visuelle Aufmerksamkeitsstörung attestiert. Sie kann also -und das war mir auch schon aufgefallen- visuelle Reize nicht gut verarbeiten. Deshalb vergisst sie vielleicht oft, Dinge einzupacken, kann weder auf dem Schreibtisch noch im Zimmer Ordnung halten, findet vieles nicht wieder, obwohl es direkt vor ihrer Nase liegt. Ihr Arbeitsgedächtnis sei hingegen gut. Hier hatte ich mit einem schlechteren Resultat gerechnet, weil sie beim Memory spielen nicht besonders gut ist. Liegt aber vielleicht auch an der visuellen Wahrnehmung? Auch ihre Aggressivität nach Fernsehkonsum lässt sich möglicher Weise damit erklären.
Meine erste Frage war: „Und nun?“. Die Ärztin setzte zwei Prioritäten, die sie etwa gleich stark gewichtet hat: Ihrer Erfahrung nach würde das Froillein von Methylphenidat profitieren. Ihr sei aufgefallen, dass sie beim Versuch, die Matheaufgaben zu lösen, extrem frustriert gewesen wäre. Ihr Selbstwertgefühl leide enorm unter dem Wollen, aber nicht können. Und da sie ein schlaues Mädchen ist und sensibel noch dazu, spüre sie natürlich, was von ihr erwartet wird, bzw. stelle selbst Erwartungen an sich, die sie aber aufgrund ihrer Einschränkung nicht erfüllen kann. Das andere ist, dass sie unbedingt eine ordentliche Mathenachhilfe bräuchte. Niemand aus der Familie soll es übernehmen, weil das die Beziehungen nur noch mehr belasten würde. Besser eine pensionierte Lehrerin (m/w/d). Und ich muss sagen, dass ich dieser Ärztin zu 100% zustimmen kann. Wenn also Ritalin ihre Situation verbessern kann, dann soll sie es nehmen.
Also wieder einen Termin für die „Medikamentenausgabe“ gemacht. Ich bekam eine „Anleitung“ und drei verschiedene Dosierungen mit nach Hause. Der Plan sah vor, dass wir am ersten Tag zu einer festen Uhrzeit mit 0 mg Methylphenidat starten. Das Froillein musste dann zwei Aufgaben lösen. Zuerst musste sie ein Diktat schreiben und im Anschluss ein Bild mit drei immer gleichen „Gegenständen“ malen. Ich habe im Anschluss noch fünf Matheaufgaben ergänzt. Den ganzen Tag sollte das Verhalten beobachtet werden. Am 2., 3. und 4. Tag wurde die Übung mit je 5 mg, 7,5 mg und 10 mg Methylphenidat wiederholt werden. Die Auswertung der Aufgaben und meiner Beobachtung wird im Anschluss die Ärztin übernehmen. Und was soll ich sagen? Ich habe so gut wie nichts bemerkt. Es gab zwei Dinge, die mir im Gedächtnis geblieben sind: Bei 5 mg hatte sie wahrscheinlich so eine Art Rebound-Effekt, d.h., dass sich die ADS/ADHS-Symptomatik nach der Wirkung eher verstärkt. An diesem Tag war sie am Nachmittag extrem schlecht gelaunt und hat beim Abendbrot sogar geweint, weil sie Angst vor einem bevorstehenden Zahnarzttermin hatte, bei dem ihr lediglich die Zähne eingepinselt werden sollten. Am Tag mit 10 mg konnte sie beim spontanen Singen irgendwelcher Lieder die Melodie viel besser halten, als ich es sonst von ihr kenne. Dazu war dieser Tag -trotz des gefürchteten Zahnarzttermins- der entspannteste. Also doch eine Wirkung? Ich hatte einfach eine deutlichere Wirkung erwartet. Die Ärztin meinte, wenn Methylphenidat der richtige Wirkstoff ist, dann merken Sie das sofort. Irgendwie habe ich auch gehofft, dass ihre Wahrnehmung bezüglich Un/Ordnung geschärft wird und sie vielleicht selber drauf kommt, die Sachen an ihren Platz zurück zu räumen. Mir hat unsere Ärztin allerdings auch erklärt, dass das Medikament die Kinder lediglich in eine Art „aufnahmefähigen“ Zustand versetzt. In der Zeit der Einnahme sollen sie grundlegende Strukturen lernen, die sie dann später auch ohne Medikament anwenden sollen.
Die Wissenschaft geht übrigens davon aus, dass ADS/ADHS durch zu aktive Transportproteine verursacht wird. Diese holen sich im synaptischen Spalt die Botenstoffe so schnell zurück, sodass Information von einer Synapse zur anderen nur unzureichend weitergeleitet wird. Methylphenidat blockiert diese Rezeptoren für einen gewissen Zeitraum. Dazu muss nicht zuerst -wie bei anderen psychiatrischen Medikamenten- ein Wirkstoffspiegel aufgebaut werden. Es wirkt beinahe unmittelbar nach Einnahme und baut sich im Laufe des Tages wieder ab. Ein Retardpräparat wirkt etwas länger, als unretardiertes „Ritalin“. Diese Besonderheit in der Informationsverarbeitung wird wahrscheinlich vererbt. Es müssen aber auch äußere Faktoren, wie gewisse Umstände unter der Geburt eine Rolle spielen. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, woher sie diese Transportproteine hat. Noch bevor wir die Diagnose bekommen habe, erzählte ich einer Kollegin von meinem Mann und seiner „Problematik“. Sie meinte, das käme ihr sehr bekannt vor. Ihr Mann hätte ADHS und wäre genauso…wenn auch einsichtig. Als ich bei Diagnosestellung die Kinderärztin auf meinen Verdacht ansprach, meinte sie, es käme wohl sehr häufig vor, dass ein Elternteil erst über die Kinder zu seiner eigenen Diagnose gelangt. Bei Erwachsenen äußert sich ADHS übrigens etwas anders. Statt Bewegungsdrang findet man hier oft Lethargie vor. Passt also alles. Auch eine Depression mit Arbeitsstörung ist typisch. Aggressivität als Form der Impulsivität nicht selten. Und vielleicht kommt diese extreme Wut beim Autofahren ebenfalls von einer visuellen Wahrnehmungsstörung. Beim Autofahren muss man ja extrem viele Reize verarbeiten.
Wie sich der geneigte Leser natürlich denken kann, habe ich ihn darauf angesprochen. Und nun ja….seine Reaktion darauf war, wie auf alles, was von mir kommt: Wut oder Ignoranz. Ich denke, er wird sich natürlich keine Hilfe suchen. Und ich zähle die Jahre, die ich noch aushalten muss….
Oh weh, das war bzw. ist ja wirklich ein Marathon, bis sich da mal was klärt.
Vielleicht deute ich deine Posts auch falsch… aber es scheint,als käme nicht viel Unterstützung von deinem Mann?
Das ist mit drei Kids sicher nochmal problematischer. Dass er eine evtl. eigene Diagnose ablehnt, ist natürlich auch irgendwie logisch. Männer wollen nie „krank“ sein… bei uns werden sogar Charakterzüge, die eindeutig vom Papa stammen, verleugnet. 😅
Viel Kraft weiterhin